WILDES KAPITAL 

Dienstag,
30. August

 
 

10.30
Führung der Reinigungsgesell-
schaft
(Künstlergruppe, Dresden) zum vietnamesischen Blumengarten in der Dresdner Johannstadt / Gespräch mit den BetreiberInnen
(Text, Trümmerfrauen)

Die Männer sind in Anzügen gekommen, die Frauen in langen Kleidern. Im Garten wachsen Dahlien über Dahlien, Kopfsalat und Minze, Kürbisse und Pfirsiche. Die Kinder hätten alle Pfirsiche gegessen, sagt der Mann, der mich herumführt. Von ihm erfahre ich, wie in Vietnam Ableger gezogen werden: Ein schöner Ast eines schönen Baumes wird angeritzt. Um die angeritzte Stelle wird ein Verband von Erde gelegt. Nach einem Jahr haben sich Wurzeln gebildet. Wir lernen auch etwas über die vietnamesische Taktik bei der Kompostierung: Die kompostierbaren Abfälle werden zwischen den Pflanzen eingescharrt. Unsere Sammelhaufen findet man wenig ansehnlich.

Auf Initiative der Reinigungsgesellschaft besuchen wir den öffentlichen Garten, den ein vietnamesisches Frauenkollektiv auf einer ungenutzten Fläche voller Bauschutt in der Dresdner Johannstadt angelegt hat. Reden werden gehalten. Die Rede der Gastgeberin Thien Hoa, genannt Prinzessin, beginnt so: „Sehr geehrte Gäste, sehr geehrte internationale Künstler und Wissenschaftler.“ Das Ziel der vietnamesischen Gemeinschaft sei es, den Gemeinschaftsgeist der anderen zu wecken und zu fördern. Den mangelnden Optimismus in Deutschland könne sie nicht verstehen. Ein großartiges Essen ist vorbereitet und wir fühlen uns sehr beschenkt. Der Bürgerpolizist erklärt mir die Bedeutung der hellen Tücher, die auf dem Boden ausgelegt sind: Die Tücher verkörperten die Wolken, denn nach der vietnamesischen Philosophie sei es angeraten, die Welt nicht von einem Standpunkt aus zu betrachten, sondern zum Beispiel auch aus der Perspektive der Wolken. Die Reinigungsgesellschaft und Herr Ewers, der ehemalige Ortsamtsleiter der Johannstadt und große Förderer unserer vietnamesischen Freunde, besprechen mit uns eine eventuelle Fassadengestaltung für ein Haus, das an den Garten grenzt. Herr Ewers ist begeistert von einem Beipiel aus Kanada, einer Serie von Fassaden zu dem Thema „Geschichte und Entwicklung Kanadas“. Die vietnamesischen Gastgeber fotografieren am Teich und waschen ab.

 

 

15.00
Informelle Ökonomien
Luchezar Boyadjiev (Künstler/Visual Seminar, Sofia):
Kapitalismus ohne Bourgeousie...?
(Vortragstext)
und Ingo Vetter (Künstler, Berlin):
Kartoffeläckerstädte
(Vortragstext)

19.00
Informelle Ökonomien
Regina Bittner (Kulturwissen- schaftlerin, Bauhaus Dessau):
Lumpenkapitalismus oder die Rückkehr des Marktes?
(Vortragstext)
moderiert von Torsten Birne (Co-Kurator Wildes Kapital)

Lieber Luchezar Boyadjiev, lieber Ingo Vetter, liebe Regina Bittner, die Ermattung, die mich in Dresden nach dem Gartenbesuch ergriffen hatte, kehrt in der Erinnerung an gleicher Stelle wieder. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich eure Beitrage nicht angemessen beschreibe. Ich erinnere mich an Stefan und seine Brüder und daran, dass die beworbenen Brüder als Heiratskandidaten für die Töchter des Bürgermeisters von Sofia ins Gespräch gekommen seien. Außerdem an die Heuernte in der Innenstadt von Detroit und die unerhörte Aussage, 60% des russischen Lebensmittelbedarfes würden durch städtische Landwirtschaft gedeckt. In Thomas´ Notizen lese ich: „Sollen sie doch die Innenstädte zupflastern. Die Innenstadt ist schließlich nicht mein Hof.“ Dann kamen die türkischen Tuchhändlerinnen, die ihren reisenden russischen Kolleginnen beibringen, wie business geht. Bretter zum Balancieren über dem Matsch. Die sozialistische Stadt als „gebaute Realisierung kollektiver Hoffnungen“. Der Kapitalismus als naturhafter Prozess mit seinen Haifischbecken kam zurück. Dirk hat gesagt, der Fahrstuhlführer habe nun genug und sei am Rande seiner Kapazitäten.

Im Dürüm Kebab Haus essen wir uns satt. Es wird festgestellt, dass der Kellner Bulgare ist.

Den nächtlichen Vortrag unter der Discokugel im Hotel Odessa verpasse ich leider. Man sagt, es sei geflüstert worden.