WILDES KAPITAL 

Montag,
29. August

 
 

10.30
Besuch der Semperoper mit Jana Kreuziger (Radeberger Gruppe AG) und Henry C. Brinker (Direktor für Marketing und Kommunikation, Semperoper)


 
  Sein erster Auftrag als Kommunikationschef der Semperoper sei ein Besuch der Messe für Bustourismus in Köln gewesen, sagt Henry C. Brinker: „Wir verkaufen 25 Opern jährlich an Bustouristen.“ Er hat für uns eine Powerpointpräsentation vorbereitet. Wir sehen seinen Bildschirmschoner, der Steinpilze zeigt. „Steinpilze sind meine Lieblingspilze,“ sagt Herr Brinker. „Wenn ich down bin, gucke ich die Steinpilze an. Oper und Coca-Cola passen nicht zusammen. Aber Oper und Steinpilze, das geht.“ „Die meisten Besucher kommen wegen des Gebäudes. Egal, was gegeben wird. Ich könnte meine Pilze zeigen.“
Er sagt auch: „Ich bin die Hebamme der Kunst“ und „The main thing is the art on the stage.“ Dabei wird seine Stimme immer melodischer. Die Abgesandte des Hauptsponsors Radeberger spricht wenig.
 

 

 

Auf unserem World-Trade-Center-Balkon wird diskutiert. Alle erweisen sich als höfliche und disziplinierte Menschen, die schon manche Aussprache geführt haben. Wir bestellen Pizza und essen hungrig aus den Pappen. Das Wetter bleibt eine wahre Freude.

 




 

15.00
Die Stadt als (historisches) Image
Observatorium (Künstlergruppe, Rotterdam):
Goldfieber

(Text, Bilder)
und Krassimir Terziev (Künstler, Sofia):
Entschuldigung, in welcher Stadt befinde ich mich?
(Text)

Andre Dekker stellt uns die Arbeit der Künstlergruppe Observatorium vor. Als das Symposium vorbei ist, schickt er mir eine Reihe von schönen Bemerkungen. „Many people are smart. There´s many things one doesn't know. Smart insights don't mean that the audience is equally smart.” Aus seinem Vortrag habe ich zum Beispiel gelernt, dass die American Bill of Rights den Satz enthält “You have the right to be left alone.” Der Bericht über die langjährige Verbundenheit der Gruppe mit einem Jugendgefängnis, für das sie einen Garten mit Autoreparatur und Ziegen angelegt hat, hat mich gelehrt: „Prisoners come and go. Staff stay.“ Andre hat auch geschrieben: „The advantage of art presentations at a symposium is not having to question if it is true or if there might be opposite thruths.”

Der Film von Krassimir Terziev spielt in einer Filmkulisse, die eine alte undefinierbare mitteleuropäische Stadt zeigt und von einer italienischen Filmproduktion in Sofia hinterlassen wurde. Statisten sind zu einem Drehtag geladen. Der Drehtag beginnt nicht, und wir sehen, wie die Statisten sich unterhalten, langweilen, amüsieren und unterhaken. Ich frage mich, ob Statisten sich in jedem Land ähnlich benehmen würden, oder ob sie sich verschieden benähmen. Ich wüsste gern, ob meine Landsleute ungeduldigere Statisten abgegeben hätten. Im Statistengewerbe kenne ich mich aber auch gar nicht aus.

Image of capitalist Rotterdam,
Andre's Remarks

 

19.00
Die Stadt als (historisches) Image
Andreas Siekmann (Künstler, Berlin):
Im Namen der Straßen und Plätze und
Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg (Institut für Soziologie der TU Dresden):
Das Canaletto-Syndrom - Dresden als imaginäre Stadt
(Vortragstext)
moderiert von Sophie Goltz (Co-Kuratorin Wildes Kapital)

Dann zeigt Andreas Siekmann einen Vorschlag für eine Geschichte der Kunst im öffentlichen Raum. Ölkrise und Hausbesetzer, Documenta und Partizipation. Ich höre gebannt zu. „Schöne Zeichnung“, sagt Luchezar. Die bulgarischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen fühlen sich belehrt und sind verärgert.
„Jede Institution – und Kunst ist immer institutionell – erfindet ihre Genealogie.“ Karl-Siegbert Rehberg besticht durch Eloquenz. „Bevor wir zum gemütlichen Teil kommen“ stellt er energisch klar, was er vom „Rentier-Kapitalismus“ hält, der das Risiko sozialisiere. Er beschreibt die Ablehnung des geplanten Karussells von Andreas Siekmann rund um den goldenen Reiter als „rührendes Dokument des Traditionalismus“, sagt „von der SED bis zum ZDF“, nennt den Künstler „das neoliberale Tamagochi“ und belustigt sich über den Glauben der Marketingabteilungen, dem Künstler als solchem ginge es immer um die größtmögliche Aufmerksamkeit.

Am Abend sitzen wir uns bei Gulaschsuppe gegenüber. Geert und ich erfahren etwas über die Gründe für die Wertschätzung der Künstler im Sozialismus: Wenn der Sozialismus eine Produktivität erreicht haben würde, die es den Arbeiterinnen und Arbeitern erlaubte, bedeutend weniger Zeit mit der Arbeit zu verbringen, wenn der Sozialismus in den Kommunismus überginge, dann käme die große Zeit von Sport und Kunst. Der Künstler stand für diese Perspektive, und darum sollte es ihm gut gehen. Professor Rehberg erzählt von einer Befragung, die er vor zehn Jahren in Dresden gemacht hat: Die Künstlerinnen und Künstler waren überzeugt, dass ihr Beruf in der neuen Gesellschaft keine Bedeutung mehr habe.